Macht und Ohnmacht in interkulturellen Beziehungen- lerne jetzt, wie du damit umgehst.

Die meisten von uns streben nach Gleichberechtigung und harmonischen Beziehungen. Interkulturelle Beziehungen sind jedoch oft beinharte Verhandlungssache- wer bestimmt, was passiert oder nicht? Erfahre hier, warum es wichtig ist, der Realität ins Auge zu schauen.

Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit in der Beratungspraxis besteht darin, Dinge, die unbewusst passieren, anzusprechen. Kulturelle Unterschiede prägen uns und können nicht einfach “weggemacht” werden. Der Umzug in ein anderes Land, finanzielle Abhängigkeiten und ein gewisses “Ausgeliefertsein” ist in interkulturellen Beziehungen gang und gäbe. Das ist nicht angenehm, aber für die meisten von uns Realität. 

Ich möchte dir heute ganz konkrete Beispiele nennen, welche Abhängigkeiten in interkulturellen Beziehungen entstehen können und vor allem auch Anregungen geben, wie du mit diesen- vielleicht neuen – Einsichten umgehen kannst.

Macht und Ohnmacht sind Teil von interkulturellen Beziehungen. Welche Abhängigkeiten sind dir tatsächlich bewusst?

Neues Land- neues Glück?

Vielleicht steht ihr vor der Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen oder versucht gerade, gemeinsam ein neues Zuhause zu schaffen. Oft kommt es schon bei der Ankunft in einer fremden Umgebung zu einem Ungleichgewicht: In vielen Fällen wird der Kulturschock unterschätzt: Die meisten von uns wissen nicht genau, was es tatsächlich heißt, die Heimat zu verlassen. Nicht nur Familie, Freunde und Beruf werden zurückgelassen, sondern auch die gesamte “alte” Identität. 

Beim Umzug in ein anderes Land müssen wir uns gezwungenermaßen ganz neu erfinden.

Gründe für einen Umzug gibt es viele- meistens erwartet man Verbesserung der Lebensumstände. Kommt man dann aber im neuen Land an, sieht die Realität oft ganz anders aus: abgesehen von einer neuen Sprache und anderem Wetter erleben viele Menschen einen schmerzlichen Verlust an Kompetenzen: Plötzlich brauchen sie Hilfe, um bürokratische Dinge zu regeln, Arzttermine zu vereinbaren oder ein soziales Netzwerk aufzubauen. Frustration und Enttäuschung können sich breit machen, der Selbstwert leidet, vielleicht kommt es sogar zum Gesichtsverlust: Die Herkunftsfamilie denkt vielleicht, man “hätte es geschafft”: in der Heimat wird man Held*in gefeiert, doch tatsächlich sitzt man vielleicht zuhause und wartet auf Arbeitsgenehmigung im neuen Land. Der Selbstwert leidet und die eigene Identität wird intensiv in Frage gestellt.

Du kennst dieses Gefühl oder beobachtest Ähnliches bei deinem Partner, deiner Partnerin? 

Abschied vom alten Leben zu nehmen kann viele Gründe haben. Auch, wenn es durch einen Umzug “besser” werden soll: ein Abschied ist  immer auch ein Verlust. Bist du dir dessen bewusst? 

Mein Tipp: Lass eine Trauerphase zu und erkenne sie an, auch wenn das oft schwierig und anstrengend ist. Vielleicht fühlst du dich völlig hilflos und auch überfordert, weil du nicht weißt, wie du mit der Situation umgehen sollst. Du musst das nicht alleine stemmen! Du darfst dir Hilfe von Außen holen! Erfahrungen von anderen und auch der Kontakt zu Communities können helfen, ein bisschen “Urlaub” von deiner Belastung zu schaffen.

Gibt es in deiner Nähe Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind? Trau dich, deine Erfahrungen zu teilen- du bist nicht allein!

Abgrenzung vom Partner: Wo sind meine persönlichen Grenzen?

Bürokratische Hürden sind zermürbend und werden oft unterschätzt. Sie führen nicht nur zu unfreiwilligen Fernbeziehungen und finanziellen Sorgen, sondern schaffen ein enormes Ungleichgewicht in der Partnerschaft.

Wir stehen vor einer Ambivalenz: wir wissen, dass wir das System nicht ändern können. Gleichzeitig stoßen wir an persönliche Grenzen, wenn Verantwortlichkeiten nicht mehr aufgeteilt werden können: plötzlich muss einer von uns viele Dinge übernehmen, weil es einfach nicht anders geht. Darf z.B. einer nicht arbeiten, übernimmt automatisch der/die Andere die finanzielle Verantwortung. Das heißt, eine Person  muss sich oft nicht nur um das Familienbudget kümmern, sondern vielleicht auch noch Herkunftsfamilien in der Heimat unterstützen, während der/die Partnerin objektiv gesehen “nichts” beiträgt und “nur” herumsitzt. Der “abhängige” PartnerIn fühlt sich mitunter völlig ausgeliefert: fremde Sprache, fremdes System, Loyalitätskonflikte bezüglich der Herkunftskultur und -familie, Rollenkonflikte, Enttäuschung und Frustration.

Ganz schnell oder sehr schleichend werden persönliche Grenzen erreicht und oft auch überschritten: Meistens versuchen wir, die Situation schönzureden (“Eigentlich ist es doch gar nicht so schlimm, das “bisschen mehr an Verantwortung” zu übernehmen- verglichen mit den Herausforderungen, die mein ParterIn im Heimatland auf sich nehmen musste.”)

Also: “Ich sehe die Herausforderung des Anderen und möchte sie/ihn nicht noch zusätzlich mit den eigenen Problemen belasten.”

Hier ist es ganz wichtig, wirklich genau hinzuschauen: Beide Partner verzichten. Die Person, die kommt, muss vieles zurücklassen und setzt sich einem massiven Identitätskonflikt aus. Die Person, die “in der Heimat” bleibt, übernimmt viele Verantwortlichkeiten und verzichtet daher oft auf persönliche Freiheiten und eine gewisse Leichtigkeit. In der Praxis erlebe ich oft, dass genau dieser Teil unterschätzt und zu wenig beachtet wird.

Eine interkulturelle Beziehung kann eine große Bereicherung sein, ist aber meist auch mit Verzicht und Verlusten verbunden. Wie trauerst du um deinen ganz persönlichen Verlust?

Was also tun mit dieser Ohnmacht? Reden hilft: einander erzählen, wie es einem geht mit der Situation – das wäre ideal. In der Realität ist das jedoch oft schwieriger als gedacht.

Was tun, wenn es einfach zu viel Verantwortung ist?

“Mental Load” ist ein Begriff, der in letzter Zeit immer häufiger gebraucht wird. Interkulturelle Familien haben einen “extra” Mental Load zu stemmen- nur ein Beispiel aus der Praxis: eine Klientin hat nach vielen Jahren unfreiwilliger Fernbeziehung endlich geschafft, eine Aufenthaltsbewilligung für ihren Partner zu bekommen. Endlich ist er da. Doch bürokratische Hürden machen es unmöglich, dass ihr Partner eine Anstellung findet. Für eine neue Ausbildung sind die sprachlichen Hürden noch zu groß. Die Frau kümmert sich um einen Sprachkurs und unterstützt ihren Partner dabei, so gut wie möglich Fuß zu fassen. Sie übernimmt nicht nur die Vereinbarung von Amts- und Arztterminen, sondern fühlt sich auch für das emotionale Wohlbefinden ihres Partners verantwortlich, der doch “wegen ihr” seine Heimat verlassen hat und nun mit einer massiven Depression zu kämpfen hat, weil er seine Rolle als Familienvater nun nicht mehr so übernehmen kann, wie er das gerne möchte. 

Schicksale wie dieses sind mir vertraut und begegnen mir in der täglichen Arbeit. Wenn du das kennst, möchte ich dir Mut machen: Vielen, vielen Menschen geht es wie dir- nur fehlt ihnen die Energie, davon zu erzählen- sie sind einfach mit der enormen Belastung des Alltags völlig überfordert. Wenn deine Situation ausweglos erscheint, möchte ich ans Herz legen:

Suche bewusst nach Menschen in ähnlichen Situationen. Du musst das nicht alleine stemmen.

“Warum bist du denn so…?”- Umgang mit Familien und Freunden

Es gibt meiner Meinung nach viel zu wenige positive Vorbilder für interkulturelle Paare. Zusätzlich zu den vielen inneren Zweifeln müssen sie sich oft Familien und Freunden gegenüber erklären und rechtfertigen. Monokulturelle Paare müssen sich mit vielen Dingen (wie z.B. finanzielle Unterstützung der Familie im Herkunftsland oder Arbeitserlaubnis in Österreich) nicht beschäftigen- es fehlt schlicht und einfach an Wissen darüber, womit interkulturelle Paare kämpfen müssen.

Oft müssen wir deshalb nicht nur “innerhalb” unserer interkulturellen Beziehung Dinge immer wieder aushandeln, sondern auch “Vermittler*innen” nach außen sein- Dinge erklären, oft auch (sprachlich und kulturell) übersetzen. Das ist auf lange Sicht sehr anstrengend. Hier gilt es eine Balance zu finden zwischen “manches einfach aushalten zu lernen und darüber hinwegzusehen”, aber manchmal auch ganz bewusst eine klare Grenze zu ziehen- auch, wenn das möglicherweise den Verlust einer Freundschaft bedeuten kann.

Hab den Mut, Dinge anzusprechen- vor allem dann, wenn du keine Ahnung hast, wie du sie lösen sollst.

Machtausgleich durch Sprache?

Welche Sprache sprecht ihr zu Hause? Für welche Familiensprache habt ihr euch entschieden- und warum? Durch Sprache entsteht Beziehung- Beziehung entsteht durch Sprache- und die kann man nicht so einfach wechseln. 

Wichtig: Du bist nicht für die Sprachkenntnisse deines Partners/deiner Partnerin verantwortlich! Daraus folgt: ihr dürft weiterhin in der Sprache sprechen, in der ihr euch kennengelernt habt. Auch dann, wenn Familie und Freunde euch vielleicht davon überzeugen versuchen, doch “bitte Deutsch zu reden, damit sie/er sich schneller integriert”. Bedenke: Ihr seid ein Liebespaar und eine Liebesbeziehung ist kein Deutschkurs. Das darfst du auch genau so und mit aller Klarheit nach Außen kommunizieren. 

Sei dir dessen bewusst, dass Sprache auch Macht bedeutet. Wie gut kannst du in einer anderen Sprache deine Gefühle ausdrücken? In welcher Sprache sprecht ihr miteinander und wie kam es dazu? Welche Rolle spielt eure Sprache in eurer Beziehungsdynamik?

Sprache ist Macht. Welche Sprache wählt ihr?

Die Balance finden: Gibt es Gleichberechtigung in interkulturellen Beziehungen?

Machtungleichgewicht in interkulturellen Beziehungen ist Realität, mit der wir umgehen lernen müssen. Im besten Fall kämpfst du nicht dagegen an, sondern akzeptierst diese Realität als Teil der ganz speziellen Dynamik einer interkulturellen Partnerschaft. Die Frage ist: wie könnt ihr dieses Ungleichgewicht ausgleichen, anstatt es zu ignorieren? Wie könnt ihr wertschätzen, was der/die Andere in die Beziehung bringt? 

Macht und Ohnmacht können in eine Balance kommen, wenn ihr wertschätzt, was jeder beiträgt.

Also: weg vom Wunsch, dass ihr “gleichberechtigte” Partner werdet im Sinne von einer absoluten Ausgeglichenheit der Machtverhältnisse. Es ist unangenehm, das genau so auf den Punkt zu bringen, aber zu meiner Arbeit gehört auch, unangenehme Dinge anzusprechen, um sie sichtbar und “bearbeitbar” zu machen. Es ist wichtig, wahrzunehmen, was dich und deinen Partner “im Hintergrund” beschäftigt- also z.B. gibt es unausgesprochene Rollenkonflikte oder Bedürfnisse, die durch äußere Umstände wie einen Umzug nicht erfüllt werden? Anstatt dagegen anzukämpfen, gilt es, bewusst hinzuschauen: In welchen Bereichen haben wir Macht/Ohnmacht? Wie wollen wir damit umgehen, das heißt: wie schaffen wir es, eine Balance dieser verschiedenen Bereiche zu schaffen? 

Wie schaffen wir es, eine Balance zu schaffen?

Wie sprecht ihr über Ungleichgewicht in eurer Beziehung? Wie schafft ihr es, eine Balance zu finden? Ich bin gespannt auf deine Erfahrung mit dem Thema und freue mich darauf, von dir zu hören- schreib mir gleich jetzt!  elisabeth@happycouples.at